Geschichte der Kindheit

Kindheit, Jugend und Öffentlichkeit vom Mittelalter bis heute


Bis zum Ausgang des Mittelalters scheint es in Europa – vielleicht von Spielzeugen und Spielen abgesehen – keine oder kaum spezielle Kindermedien gegeben zu haben. Dies dürfte weniger am Mangel an leistungsfähigen Produktionstechniken gelegen haben, als vielmehr an den Lebensbedingungen und der damals vorherrschenden Auffassung von Kindheit.
Vor dem Erreichen des Erwachsenenstatus wurden zwei Lebensstufen unterschieden: die Kindheit („infantia“), die von der Geburt bis zum siebten Lebensjahr dauerte und die Jugend („puerita“) vom siebten bis zum zwölften (bei Mädchen) oder 14. Lebensjahr (bei Jungen). Nur die erste Lebensphase, in der die Kinder meist noch in engem Kontakt mit der Mutter, der Familie und Nachbarschaft aufwuchsen, entsprach in etwa unseren heutigen Vorstellungen von Kindheit und Jugend.

Es war üblich, dass die Kinder mit spätestens sieben Jahren das Elternhaus verließen, um sich anderswo zur Arbeit zu verdingen. In der Regel lebten die Kinder dann mit dem Hausgesinde zusammen, dem sie auch rechtlich gleichgestellt waren. Erst am Ende der „puerita“ waren Kinder auch strafmündig, d.h. sündhaftes Verhalten wurde mit Beichte und Buße geahndet. Soweit der Schulbesuch – allenfalls für eine Minderheit der Kinder aus der Oberschicht - überhaupt möglich war (etwa im Alter zwischen neun und zwölf), begann damit in der Regel der Erwachsenenstatus. Eine klare Trennungslinie zwischen den „Jugendlichen“ von sieben bis 14 Jahren und den Erwachsenen gab es aber nicht, und auch die jüngeren „Kinder“ waren nicht von der Erwachsenenwelt abgeschnitten. Dies ließen schon die beengten Wohnverhältnisse nicht zu.

Im öffentlichen, kirchlich dominierten Leben, bei Prozessionen und Festen waren Kinder - wie zeitgenössische Bildzeugnisse immer wieder belegen – stets in vorderster Reihe präsent. Dies bedeutete unter anderem, dass es keinen pädagogisch kontrollierten Schonraum für Kinder gab. Die öffentliche Kommunikation stand fast ausschließlich unter der Regie und Kontrolle der Kirche: Pfaffe/Pfarrer, Prediger, Magister, Kirchenraum, Kirchenmalerei, Gottesdienst, religiöse Unterweisung, Legenden, Kirchenfeste mit Prozessionen und geistlichen Schauspielen (auf den Kirchenvorplätzen); Wanderprediger, Märkte mit Gauklern, Possenreißern, Akrobaten, Erzählern und Musikanten und nicht zuletzt öffentlich inszenierten Bestrafungen („Pranger“) und Hinrichtungsspektakeln bildeten eine mediale Landschaft, die sich zwar jeweils nach ihrem städtischen, ländlich-dörflichen oder höfischen Charakter unterschied, nicht aber nach dem Alter des Publikums.
Zentren der städtischen Kommunikation waren außerdem Gasthäuser, Schänken, Badestuben und Bordelle. Von den beiden letzten abgesehen waren diese Kommunikationsräume auch für Kinder und Jugendliche zugänglich und attraktiv.

Folgende Merkmale waren prägend für die gesamte Lebenswelt vom Mittelalter bis teilweise ins 19. Jahrhundert hinein:
• Überwiegend agrarisch-ländliche Lebensweise (85-90 Prozent der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig; davon gehört über die Hälfte zur armen Unterschicht; Orte mit 2000 Einwohnern gelten bereits als ansehnliche Städte)
• Statisch-immobile Lebensweise
• Knappheitsgesellschaft
• Ständische Gliederung der Sozialstruktur
• Religiöse Steuerung des privaten und öffentlichen Lebens
• Dominanz illiterater Kommunikationsformen (über 95 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten)

Literaturhinweise