Bilder und Lesestoffe


Spielkartenbogen zum Ausschneiden und Aufkleben, kolorierter Tafeldruck um oder nach 1400

Die Rezeption von Lesestoffen setzt Lesefähigkeit voraus. So banal diese Feststellung klingen mag, ist sie dennoch ungenau. Es ist zwar richtig, dass Analphabeten und Kinder im „Vor-Lesealter“ reine Textbotschaften nicht eigenständig entziffern können; das bedeutet aber nicht, dass sie von deren Kenntnis völlig ausgeschlossen wären.
In Gesellschaften, in denen nur ein kleiner Teil der Erwachsenen (halbwegs) lesefähig ist, wie dies in Deutschland bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts der Fall war, hat zum einen die Schrift eine andere Bedeutung als in voll alphabetisierten Gemeinschaften, zum anderen wird das Unvermögen zu Lesen durch andere Kommunikationsformen weitgehend kompensiert. Allgemein bekannte Bildikonografien und –symboliken sowie eine ausgeprägte mündliche Kommunikationskultur mit heute kaum noch nachvollziehbaren Gedächtnisanforderungen, besorgen weitgehend die Kommunikationsleistungen, die wir heute gemeinhin nur der Schrift zubilligen.

Für die Produktion von Kindermedien bedeutsam ist, dass in nicht oder nur teilalphabetisierten Gesellschaften die Mehrheit der Erwachsenen bei schriftlicher Kommunikation keinen entscheidenden Vorteil gegenüber den Kindern besitzt. Aus diesem Grund gibt es in solchen Gesellschaften nur wenige, ausschließlich an Kinder gerichtete Medien, andererseits werden Kinder nicht oder nur in geringem Maße von der allgemeinen (Erwachsenen-)Kommunikation ausgeschlossen. Eine spezielle Bilderproduktion für Kinder scheint es in Europa erst mit der Herausbildung eines breiten Marktes für populäre Grafik nach der Erfindung des Buchdrucks ab dem 15. Jahrhundert gegeben zu haben. Das bedeutet aber nicht, dass Kinder nicht immer schon auch Adressaten von Bildangeboten waren.

Das Verhältnis von Lese- und Schreibfähigkeit (Literacy) und Analphabetismus bei Erwachsenen oder Kindern darf man sich nicht als absolute Alternativen vorstellen: Volle Literacy auf der einen und totale Illiteralität auf der anderen Seite sind nur Extreme auf einer gleitenden Skala von Zwischenformen. In nicht voll alphabetisierten Gesellschaften spielen daher auch vielfältige Mischformen aus mündlicher, bildlicher und schriftlicher Kommunikation eine entscheidende Rolle.

Deshalb sind nicht nur reine Schrift- und Bildmedien, sondern auch derartige „Mischmedien“ Gegenstand dieses Themenbereichs der visuellen Medien: Kirchenmalerei, Flugblatt und Bilderbogen, „ephemere“ Lesestoffe wie z.B. Groschen- und Reklameheftchen und kirchliche Kleinschriften, Wandschmuck der unterschiedlichsten Art, „Gedenkmedien“ wie Andachtsbildchen, Poesiealben, Tauf- und Patenbriefe und bildliche „Sammelmedien“ (Fleißkärtchen, Kaufmanns- und Sammelbilder, Reklamemarken, Oblatenbildchen) – soweit sie nicht jeweils Teil ganz bestimmter Medienverbünde sind.

Das Fehlen bestimmter Medien entspricht dem kompensatorischen, auf die Verringerung bisheriger dokumentarischer Defizite ausgerichteten Sammlungsziel von Kindermedienwelten. So ist z.B. die seit dem 18. Jahrhundert aufblühende intentionale Kinder- und Jugendliteratur hervorragend aufgearbeitet und zugänglich. In jüngster Zeit gibt es auch große Fortschritte bei der Erforschung und Dokumentation der Geschichte der Comics in Deutschland. Diese Medien können hier weitgehend außer Betracht bleiben.