Der Lumpenmatz (Chromolithographie aus: Lohmeyer, Julius; Röhling, Carl: Fragemäulchen. Ein Bilderbuch. Leipzig [1885]


Der Hausirer, 19. Jahrhundert

Robinson’s Reisen und Abenteuer (Detail)
(Neuruppin Kühn Nr. 1735, anonym um 1835), den vollständigen Bilderbogen sehen Sie hier.

Bilderbogen Nr. 147 von Pellerin, Épinal. Le Saveur du Monde (Galerie Religieuse)

Bilderbogen

Zu den zahlreichen technischen Neuerungen des 19. Jahrhunderts gehörte nicht zuletzt die Entwicklung moderner, leistungsfähiger und billiger Drucktechniken. Dazu zählte auch die „Lithographie“ (Steindruck), durch die vor allem die populäre Druckgrafik, in Form der so genannten Bilderbogen einen ungeheuren Aufschwung erlebte.
Diese beliebten Drucke waren einerseits die bunten Nachfolger der illustrierten Flugblätter und Einblattdrucke früherer Jahrhunderte und andererseits Vorläufer der Comics. Sie stellten nicht nur einen attraktiven und zugleich preiswerten Wandschmuck dar, sondern vermittelten auf populäre Weise Bildung und Unterhaltung. 1856 annoncierte ein Lithograph erstmals ausdrücklich die Produktion von „Kinder-Bilderbogen“ aus Neuruppin.

„Hurra, Holzappel, der Lumpenmatz [Lumpenhändler], ist da! … [E]r allein nimmt unsern Sinn und unsern Blick gefangen: der Neuruppiner Bilderbogen. … Reich wie ein König, das Kleinod in der Hand, so stürzt man heim, gefolgt von einem weiten Freundeskreis, der einen Blick ins Zauberland auf Vorschuss zu erhaschen hoffte. Zu Hause aber warten Knecht und Magd schon, sogar die Mutter und der Vater; sie lassen sich in ihrer Arbeit stören, die Brille wird hervorgesucht und interessiert der Bogen sorgsam durchstudiert. Dann diskutiert man wohl am Stammtisch und beim Kaffeeklatsch darüber. Uns Kleinen aber schaffte er eine Welt, in der wir lange – bis zum nächsten Bogen – leben.“ Bauer, Heinz: Der Neuruppiner Bilderbogen, in: Velhagen und Klasings Monatshefte 18 (1904/04), S. 634f.

Ähnlich wie im 20. Jahrhundert Filme, Sprechplatten und Hörbücher, griffen die Bilderbogen den Kanon der älteren Erzähl- und Lesestoffe in leicht zugänglicher und attraktiver Form auf und beanspruchten einen vergleichsweise nur geringen Leseaufwand. Schon aus diesem Grund waren sie ideale Medien für Kinder und in bisher nicht da gewesenem Umfang wandten sich die Themen der Bilderbogen direkt an Konsumenten im Kindesalter. Wie zuvor die Flugblätter waren erst recht die Bilderbogen – zumindest in Europa – ein internationales Medium. Die großen Bilderbogenmanufakturen in Frankreich (Epinal, Wissembourg) und Deutschland (Neuruppin, Nürnberg, Augsburg, München, Stuttgart) produzierten tausende von Themen in hohen Auflagen und mehreren Sprachen. In Österreich beherrschte die 1819 gegründete lithografische Anstalt (später Verlag) M. Trentsensky den Markt.

Neben klassischen Themen der Volksüberlieferung und nationalen Geschichte ist eine Vorliebe für Humoristisches und die drastisch-witzige Belehrung unverkennbar.
Bilderbogen gab es in verschiedenen Größen, koloriert und unkoloriert zu unterschiedlichen Preisen: Die größeren und aufwändigeren Münchener und Stuttgarter Bilderbogen kosteten in der Regel koloriert einen Groschen, schwarzweiß die Hälfte. Die preiswerteren kleineren Lithographien aus Neuruppin (meist 42 x 34 cm) waren für sechs Pfennige, unkoloriert für drei Pfennige zu haben.
Zu den traditionellen Vertriebswegen über Kolporteure und auf Märkten kamen nun zusätzlich Buchbinder, Papier-, und Kolonialwarenläden.

Obwohl es seit 1830 das Farbdruckverfahren der Chromolithographie gab, behielten viele Hersteller – dank billiger Arbeitskräfte – noch für Jahrzehnte die Schablonenkolorierung bei. Mehrere später weltbekannte Künstler begannen ihre Karriere als Bilderbogengrafiker, so z.B. Wilhelm Busch, Lothar Meggendorfer oder Moritz von Schwind.

Die auf billige Produkte spezialisierten Verlage Gustav Kühn und Oehmigke & Riemschneider in Neuruppin warfen in etwa acht Jahrzehnten weit über 20.000 Bilderbogen, darunter zahlreiche Ausschneide- und Theaterbilderbogen, auf den Markt. In ihrer Druckqualität entsprachen sie zu keiner Zeit den anspruchsvolleren Produkten anderer Verlage, erreichten aber über den Preis ein viel breiteres Publikum. Der Werbespruch des Verlegers Kühn lautete: "Knallrot, Blitzblau, Donnergrün, gedruckt und zu haben bei Gustav Kühn".

An die Anfänge der Spielzeugproduktion erinnert der Umstand, dass auch bei der Bilderbogenproduktion in erheblichem Umfang schulpflichtige Kinder eingesetzt wurden - vor allem als „Koloristen“ zum Ausmalen der Drucke. Der Marktführer Gustav Kühn in beschäftigte in den 1880er Jahren neben 30 Erwachsenen ebenso viele elf- bis 14-jährige Schüler. Ihre tägliche Arbeitszeit lag zwischen dreieinhalb und sechseinhalb Stunden, die Wochenarbeitszeit zwischen 28 und 30 Stunden. Der Wochenlohn betrug zwischen 72 Pfennigen und zwei Mark. Weil die Firma schulpflichtige Kinder auch vor dem Unterrichtsbeginn arbeiten ließ, kam es zu Protesten der Lehrerschaft. Der Rektor von Neuruppin monierte 1892 bei der Preußischen Gewerbeaufsicht: „In derselben [Bildermalerei] werden 11 Schüler, der 3ten Klasse angehörig, beschäftigt und zwar nicht bloß nach völlig beendetem Unterricht, auch morgens von ¾ 6 – ½ 8. Der Unterricht leidet dadurch bedeutend. Denn weil die Kinder in der Malerei stehend arbeiten, sind sie morgens in der Schule schlaff.“ (Zit. n. Brakensiek, Stefan: Alltag, Klatsch und Weltgeschehen. Neuruppiner Bilderbogen; ein Massenmedium des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 1993, S. 38)
Es ist bemerkenswert, aber nicht untypisch, dass sich dabei die Eltern der betroffenen Kinder auf die Seite des Fabrikanten schlugen, weil sie um den Verdienst fürchteten.

Literaturhinweise